Stuttgart21 #s21: Aktivierung der Projektgegner
Beschreiben Sie am Beispiel „Stuttgart21“, welche demokratiepolitischen Versäumnisse hier zu einer Aktivierung der Projektgegner geführt haben.
Das Projekt „Stuttgart21“ (S21) wurde 2001 vom Aufsichtsrat der Deutschen Bahn genehmigt. Dabei ging es darum, aus dem bisherigen Kopfbahnhof einen unterirdischen Durchgangsbahnhof zu machen. Die Zahl „21“ stand dabei für die Realisierung im 21. Jahrhundert. Im Oktober 2006 wurde das Projekt von CDU, SPD und FDP – also repräsentativ-demokratisch auf breiter Basis – beschlossen. 2007 wurde das Projekt mit dem Bund vereinbart, 2009 die Finanzierungsvereinbarungen unterzeichnet.
S21 war von Anfang an von Protesten begleitet. Schon 2007 verlangten 61.193 gültig Unterzeichnende einen Bürgerentscheid über den Ausstieg aus S21. Dieser Bürgerentscheid wurde quer durch alle Instanzen aus rechtlichen Gründen abgelehnt. Das Stuttgarter Verwaltungsgericht bestätigte die rechtliche Korrektheit der Ablehnung. Auch die Urheberrechtsklage des Enkels des Bahnhofsarchitekten gegen den Abriss wurde rechtsgültig abgelehnt. Rein formaljuristisch war das Vorgehen bei S21 also korrekt.
Der Fehler war freilich, Demokratie auf den Ablauf formal-juristischer Prozesse zu reduzieren. Zwei Dinge fehlten: Transparenz und Beteiligung. Die Proteste der S21-Gegner waren vielfältig und tiefgreifend: Unterschriftensammlung, Bürgerbegehren, Infostände, Demonstrationen, Kundgebungen, Internet-Aktivitäten, „Widerstandsbaum“, „Schwabenstreich“ und „Bauzaun“-Beklebungen. Die Aufmerksamkeit war den S21-Gegnern damit sicher. Gleichzeit gelang es, das Thema unter dem Einsatz von „Social Media“ weiter voranzutreiben.
Hier machte sich die überregionale, ja sogar internationale Vernetzung der Protestierer bezahlt: So wurde der Hashtag #s21 durch internationale Unterstützung dauerhaft zu einem „trending hashtag“. Das Thema war also in der Öffentlichkeit dauerpräsent, auch von den Medien und der Politik nicht ignorierbar.
Der entscheidende Umschwung erfolgte allerdings, als es bei Demonstrationen zahlreiche verletzte Demonstranten gab. Besonders erschütternd war der Fall „Dietrich Wagner“, ein älterer Kundgebungsteilnehmer, der durch den scharfen Strahl eines Wasserwerfers das Augenlicht verlor. Sein Bild ging um die Welt und beeinflusste via ecards sogar zumindest emotional das Ergebnis der Landtagswahl 2011.
Schließlich war die offizielle politische Seite zum Handeln gezwungen. Der CDU-Politiker Heiner Geißler leitete ein Schlichtungsverfahren – eine Premiere in dieser Form. Hatte die fehlende Transparenz und die fehlende Information (von der Politik als Bringschuld gefordert) für Schwierigkeiten gesorgt, wurde nun genau das Gegenteil verfolgt: Maximal mögliche Transparenz und gleichberechtigte Teilnahme von Bürgern am Schlichtungsverfahren. Das Verfahren wurde LIVE in Fernsehen und Internet übertragen. Das überraschende Ergebnis: Ein Beteiligungsparadoxon: Gab es davor wegen geringer Beteiligungsmöglichkeiten steigendes Interesse, sank das Interesse durch hohe Beteiligungsmöglichkeiten.
Schließlich führte auch der Umgang mit „Stuttgart21“ für die CDU trotz Abschneiden als stärkster Kraft (39%) nach 58 Jahren zum Verlust der Regierungsverantwortung. Die von Rot-Grün angesetzte Volksabstimmung ging freilich FÜR S21 aus. So zeigt das vorliegende Beispiel, dass es durchaus möglich ist, umstrittene Projekte mit entsprechender Transparenz und Beteiligung durchzubringen – eine Verweigerung dieser Faktoren aber politisch bestraft wird.
Diese Ausarbeitung ist die Beantwortung einer Prüfungsfrage an der Donau-Universität Krems / Politische Kommunikation bei Prof. Plaikner und Prof. Filzmaier.